Montag, 22. Oktober 2012

Schade, dass du nicht normal bist.



Wie lange mag es her sein? Damals existierte noch die PLUS-Kette und Klein-Reggy hatte gerade ihre erste Brille bekommen. Ein unvergleichlich schirches Modell, welches Harry Potter vor Scham unter seiner Narbe erröten ließe, der Trägerin aber einen besonderen Durchblick fürs Leben schenkte. An ihm liegt es wohl, dass ich zehn Jahre später diesen Vorfall vor meinen unverändert kurzsichtigen Augen sehe. 

Klein-Reggy stand im besagten Discounter an der Kasse an. Sie freute sich auf die billigen Bauchschmerz-Bonbons auf dem Fließband – die Belohnung dafür, dass sie die Stellung in der Schlange hielt, während Vatern noch den letzten notwendigen Krimskrams einsammelte, der Kinder überhaupt nicht interessiert. 

Vor Klein-Reggy stand ein pummeliger Mann mit Halbglatze an, der mit einer ungewöhnlichen Sorgfalt seine Einkäufe auf das Fließband legte. Ein kurzer Blick, gnadenlos geschärft durch die neue Brille, bewertete den Dicken als hässlich. Und was macht mehr Spaß, als hässliche Menschen zu beobachten? 

Bald durfte Klein-Reggy das seltsam proportionierte Mondgesicht in voller Pracht bewundern. Als Vatern neben ihr in der Schlange auftauchte, drehte sich der Mann um. „Sie gehören zusammen?“ Sogleich machte er eifrig Platz für meinen Vater, wie es normalerweise niemand gemacht hätte. Und die Menschen wiederum machten ihm Platz: Niemand wollte dem Dicken zu nahe kommen, peinlich berührt, wandten sich alle ab von diesem komischen Vogel.

Komisch verhielt er sich auch, als er an die Reihe kam. Die Kassiererin, eine Mustervertreterin der geheimen Gewerkschaft „Überarbeitet und unterbezahlt“, schob seine Einkäufe emotionslos über das Fließband.
Bei der Eierschachtel wurde der Dicke nervös. „Können Sie bitte aufpassen, das ist zerbrechlich.“ Den „Ich weiß, was ich tue, auch wenn ich es hasse, das zu tun und jetzt lieber zu Hause vor dem Fernseher sitzen würde, gleich kommt nämlich ‚Sturm der Liebe‘“-Blick der Kassiererin schien er nicht zu bemerken, denn als sie fertig war, bedankte er sich artig. Ihr gegrummeltes „Schönen Tag noch“ löste in ihm gar helle Begeisterung aus. „Ihnen auch einen schönen Tag … was für eine freundliche Dame!“

Mittlerweile hatte auch Klein-Reggy (spätestens bei Papis forschem Zischen „Starr den Spasti nicht so an“) begriffen, dass der Mann geistig behindert war. Ebensowenig entging es der Kassiererin. Das hinderte sie jedoch nicht daran, sich, kaum dass der Kunde verschwunden war, mit einem süffisanten Grinsen zu ihrer Kollegin umzudrehen: „Hast du gehört, ich bin eine freundliche Dame!“

Beide lachten, als wären sie wieder Teenager von zweifelhafter Schönheit und der Dicke eine picklige Schulkameradin, die im Sportunterricht vom Bock geplumpst war.  
Bis heute frage ich mich: Warum?

Was war so lachhaft am Verhalten des Mannes, oder besser gesagt: Was lässt selbstverständliche Höflichkeit für uns so unpassend und anachronistisch erscheinen?

Wer freundlich ist, macht sich im besten Falle lächerlich, im gewöhnlichen verdächtig. 

Eine ungeschriebene Etikette lässt uns fremde Menschen in unserem Umfeld meiden – nie kämen ein „normaler“ Mensch auf den Gedanken, einen Passanten in ein Gespräch zu verwickeln, das über „Tschuldigung“, „Wie spät“ oder „Haben Sie eine Zigarette für mich“ hinausgeht. 
Bröckchen unbeabsichtigt entstandenen Small-Talks werden abgeschüttelt wie ein Mückenschwarm – und hinterher schüttelt man den Kopf und beschwert sich bei Freunden oder Kollegen über die Aufdringlichkeit irgendwelcher Freaks, die anscheinend zu viel Freizeit haben.  
 Ein Kompliment von einem Unbekannten – oh mein Gott, wo ist mein Pfefferspray?

In Bus & Bahn kauert man in sich zusammen, den Blick starr geradeaus, krampfhaft an der eigenen Privatsphäre festhaltend und darauf versessen, die der anderen bloß nicht durch einen flüchtigen Blick zu verletzen. 
Gesichter sind tabu. 
Lächeln ist tabu – außer man besitzt den Ehrgeiz, es offiziell zum Dorftrottel oder zur Stadtschrulle zu schaffen. 
Eine falsche Freundlichkeit … und man endet wie der behinderte Mann an der Kasse.

Muss man erst einen Gendefekt haben, um menschlich zu sein?

1 Kommentar:

  1. Ja.. leider hast Du mit Deiner Schlussfolgerung Recht... aber da ich nicht normal bin... lächele ich tatsächlich auch mal Menschen an die ich gar nicht kenne.. das irre ist.. die meisten lächeln zurück :)

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