„Warum machst du hier mit?“„Weil ich Angst habe, Menschen in die Augen zu schauen.“
Es hat etwas vom
Treffen einer Selbsthilfegruppe, nur dass die Stühle in dem schwülen
Raum irgendwo im Glockenbachviertel nicht in einem Kreis angeordnet
sind, sondern in Zweierreihen. Hier sollen sich gleich jeweils zwei
Fremde gegenübersitzen und sich tief in die Augen schauen.
Schweigend. 15 Minuten lang. Danach sucht man sich das nächste
Blick-Opfer. Insgesamt zwei Stunden Meditation am Gegenüber. Dies ist das Konzept des wöchentlichen Eye Contact
Experiments. Wo sonst kann man seine Comfort Zone verlassen und dabei
bequem sitzen bleiben? Naja, so bequem wie es Klassenzimmer-Stühle
eben zulassen.
„Was auch immer an
Emotionen in euch hochkommt – lasst sie zu. Lacht, wenn ihr lachen
müsst und weint, wenn ihr weinen müsst“, erklären unsere
Blick-Coaches bei der Einführung. Puh. Was sagt es über mich als
Mensch aus, wenn mein Gegenüber mich keine Viertelstunde anschauen
kann, ohne in Tränen auszubrechen? Der einzige größere Ego-Gau
wäre, wenn mir selbst die Tränen kommen.
Die große
Platzsuche beginnt. Ich habe beim Hereinkommen bereits einige
Menschen erspäht, die mir als Blickpartner sympathisch sind –
sympathisch in dem Sinne, dass mir der Gedanke, sie minutenlang
anzustarren, weniger Angst einjagt als bei anderen. Leider sind diese
Wunschkandidaten bereits besetzt. Aber ich habe noch Glück und setze
mich einem großen jungen Mann gegenüber, dessen Ausstrahlung auf
mich warm und beruhigend wirkt.
Sinn und Zweck der
viertelstündlichen Blickduelle ist es, Fremden näher zu kommen, als
es der Alltag zulässt. Umso schlechter ist mein Gewissen, da ich –
wie bei allen Ausflügen außerhalb meiner Comfort Zone – zunächst
mehr mit mir selbst beschäftigt bin als mit allem anderen. Stimmt meine Körperhaltung? Was ist das perfekte Verhältnis zwischen
lächeln und ernst gucken? Was soll mein Gegenüber in mir sehen?
Kann ich überhaupt beeinflussen, was mein Gegenüber in mir sieht?
Ich setze mich stocksteif hin. Sicher ist sicher.
Manche schütteln
sich die Hände, stellen sich einander vor, was seltsam geschäftlich
anmutet. Meditation oder Meeting? Ich nuschele etwas, von dem ich
hoffe, dass es als Small-Talk durchgeht. Manche Blick-Paare scheinen
sich bereits zu kennen und verstehen sich blendend. Ich weiß nicht,
ob 15 Minuten Anstarren bei Bekannten oder gar Freunden einfacher
wäre – oder umso schwieriger, weil die rettende Distanz fehlt?
Es geht los. Mein
Herz rast. Vielleicht war der Spezi vorhin keine gute Idee. Aber
normalerweise kann ich doch literweise Koffein konsumieren – wenn
ich nicht gerade minutenlang still sitzen und mich auf eine Sache
konzentrieren muss.
Noch fällt es mir
schwer, mich ausschließlich auf das graublaue Augenpaar vor mir zu
fokussieren, denn dann fangen meine Augen sofort zu brennen an und
meine Brille scheint zu beschlagen. Stattdessen studiere ich das
Gesicht meines Blickpartners. Wenn ich nur nicht so eine
Mimik-Legasthenikerin wäre, könnte ich vielleicht entschlüsseln,
was hinter jedem Lächeln, Lippenlecken, Kopf-Schief-Legen und
Augen-Zusammenkneifen steckt. So aber bin ich meiner Fantasie, meinen eignen Projektionen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Auch nach „Anpfiff“
tuschelt und kichert das Paar neben mir munter weiter. Das ist nicht
fair. Wir dürfen uns doch nicht unterhalten. Ich will „Psst“
sagen. Soll ich „Psst“ sagen? Wie gebe ich einem einem einzigen
„Psst“ genug Lässigkeit mit, sodass es nicht oberlehrerhaft
wirkt, aber dennoch genug Autorität, um die Tuscheltäubchen
tatsächlich zum Verstummen zu bringen? Ich traue mich. Kurz nach
meinem „Psst“ geht die Unterhaltung wieder los. Ich fühle mich,
als ob ich versagt hätte. Immerhin grinst mein Blickpartner – ich
glaube, er fand die Aktion stark. Was ein wenig tröstlich ist, denn
aus irgendeinem Grund weckt er in mir das Bedürfnis, ihm zu
gefallen. Als Mensch. Als Persönlichkeit.
Entgegen der
Ankündigung gibt es zum Glück keine Weinkrämpfe. Dafür jede Menge
Gelächter, vor allem bei meinem zweiten Blickpartner. Ja, ich habe
tatsächlich die erste Viertelstunde ohne Weinkrämpfe oder
Ohnmachtsanfälle hinter mich gebracht und werde nun mit einem
schelmischen braunen Augenpaar belohnt. Der Inhaber dieses Augenpaars
warnt mich gleich vor, dass er vermutlich viel lachen und Blödsinn
machen muss. Wegen der Nervosität. Solange er nicht auf die Idee
kommt, sich während der Viertelstunde zu unterhalten, ist mir das
recht.
Seine lockere
Ausstrahlung animiert mich dazu, mich lässiger hinzusetzen. Großer
Fehler. Unter mir knackt der Stuhl verdächtig. Sogleich bereue ich
jeden Döner, jeden Burger und jeden Eisbecher, den ich jemals
konsumiert habe. Was, wenn der Stuhl unter mir zusammenbricht? Eine
Bekannte hat sich neulich auf ähnliche Weise das Steißbein
angebrochen. Nur konnten ihren Sturz nicht so viele hochkonzentrierte
Augenpaare verfolgen.
Mit intaktem
Steißbein und, dank der Pantomime-Einlagen meines Blickpartners,
etwas entspannter geht es weiter mit einem älteren Herren, dessen
durchringender Blick mich fasziniert – und wohl nervöser macht, als ich es mir eingestehe. Denn hinterher fragt er mich mit
einer fast väterlichen Besorgnis, ob ich mich denn wohl gefühlt
hätte in dieser Viertelstunde. Offenbar hat meine Körperhaltung
äußerst angespannt gewirkt. Nichts entgeht diesem Blickpartner. Wie
sich herausstellt, fotografiert er in seiner
Freizeit gerne Porträts und nimmt deshalb Menschen besonders
intensiv wahr.
Mein nächstes
Blick-Opfer ist eine Dame. Genau wie ich hat sie sich dieses Mal
bewusst für eine weibliche Blickpartnerin entschieden. Für die
Frauenquote. Beim Weekly Eye Contact starren tatsächlich mehr Männer
als Frauen, entgegen meiner Erwartung, dass ein solches Event für
die meisten Herren der Schöpfung doch zu touchy-feely wäre –
obwohl sich hier nur Blicke berühren. Bin ich sexistisch?
Ich muss den Drang
unterdrücken, ab und zu vor diesem Augenpaar wild zu fuchteln oder
zu schnipsen, um meine Blickpartnerin aus ihrer unnatürlich
anmutenden Ruhe zu bringen. Kein Zappeln, kein Zupfen an der
Kleidung, kein Bequemer-Hinsetzen. Sogar ihr Blinzeln scheint sich
mit meinem sychnronisiert zu haben, denn ich erwische sie nie dabei.
Vielleicht sitzt mir die Bemerkung des Vorgängers noch in den
Knochen, vielleicht bin ich inzwischen warm geworden, oder vielleicht
liegt es an der Statik der Fremden: In jedem Fall stelle ich an mich
selbst nicht mehr den Anspruch, möglichst ruhig dazusitzen. Denn die
Statuen-Impression meiner Blickpartnerin kann ich ohnehin nicht
überbieten. Überwältigt von ihrer Ruhe, studiere ich umso
intensiver jede kleinste Asymmetrie in ihrem Gesicht. Sie meditiert
regelmäßig, wie sich beim Gespräch hinterher herausstellt. Die
erste Nicht-Überraschung an diesem Sommerabend.
Mein nächster und
letzter Blickpartner macht nicht zum ersten Mal beim Weekly Eye
Contact mit, sondern zum zehnten. Dies würde auch die routinierte
Ausstrahlung erklären. Auf meine Frage hin, was ihn daran reizt,
regelmäßig insgesamt zwei Stunden seiner Zeit dem Starren zu
widmen, kommt eine Antwort, die noch ehrlicher und intimer ist als
die bisherigen Blickduelle:
„Weil ich Angst davor habe, Menschen in die Augen zu schauen.“