Samstag, 2. Juni 2018

Menschen, die auf Fremde starren: Mein erstes Mal beim Weekly Eye Contact Munich

„Warum machst du hier mit?“
„Weil ich Angst habe, Menschen in die Augen zu schauen.“
Es hat etwas vom Treffen einer Selbsthilfegruppe, nur dass die Stühle in dem schwülen Raum irgendwo im Glockenbachviertel nicht in einem Kreis angeordnet sind, sondern in Zweierreihen. Hier sollen sich gleich jeweils zwei Fremde gegenübersitzen und sich tief in die Augen schauen. Schweigend. 15 Minuten lang. Danach sucht man sich das nächste Blick-Opfer. Insgesamt zwei Stunden Meditation am Gegenüber. Dies ist das Konzept des wöchentlichen Eye Contact Experiments. Wo sonst kann man seine Comfort Zone verlassen und dabei bequem sitzen bleiben? Naja, so bequem wie es Klassenzimmer-Stühle eben zulassen.

„Was auch immer an Emotionen in euch hochkommt – lasst sie zu. Lacht, wenn ihr lachen müsst und weint, wenn ihr weinen müsst“, erklären unsere Blick-Coaches bei der Einführung. Puh. Was sagt es über mich als Mensch aus, wenn mein Gegenüber mich keine Viertelstunde anschauen kann, ohne in Tränen auszubrechen? Der einzige größere Ego-Gau wäre, wenn mir selbst die Tränen kommen.

Die große Platzsuche beginnt. Ich habe beim Hereinkommen bereits einige Menschen erspäht, die mir als Blickpartner sympathisch sind – sympathisch in dem Sinne, dass mir der Gedanke, sie minutenlang anzustarren, weniger Angst einjagt als bei anderen. Leider sind diese Wunschkandidaten bereits besetzt. Aber ich habe noch Glück und setze mich einem großen jungen Mann gegenüber, dessen Ausstrahlung auf mich warm und beruhigend wirkt.

Sinn und Zweck der viertelstündlichen Blickduelle ist es, Fremden näher zu kommen, als es der Alltag zulässt. Umso schlechter ist mein Gewissen, da ich – wie bei allen Ausflügen außerhalb meiner Comfort Zone – zunächst mehr mit mir selbst beschäftigt bin als mit allem anderen. Stimmt meine Körperhaltung? Was ist das perfekte Verhältnis zwischen lächeln und ernst gucken? Was soll mein Gegenüber in mir sehen? Kann ich überhaupt beeinflussen, was mein Gegenüber in mir sieht? Ich setze mich stocksteif hin. Sicher ist sicher.

Manche schütteln sich die Hände, stellen sich einander vor, was seltsam geschäftlich anmutet. Meditation oder Meeting? Ich nuschele etwas, von dem ich hoffe, dass es als Small-Talk durchgeht. Manche Blick-Paare scheinen sich bereits zu kennen und verstehen sich blendend. Ich weiß nicht, ob 15 Minuten Anstarren bei Bekannten oder gar Freunden einfacher wäre – oder umso schwieriger, weil die rettende Distanz fehlt?

Es geht los. Mein Herz rast. Vielleicht war der Spezi vorhin keine gute Idee. Aber normalerweise kann ich doch literweise Koffein konsumieren – wenn ich nicht gerade minutenlang still sitzen und mich auf eine Sache konzentrieren muss.

Noch fällt es mir schwer, mich ausschließlich auf das graublaue Augenpaar vor mir zu fokussieren, denn dann fangen meine Augen sofort zu brennen an und meine Brille scheint zu beschlagen. Stattdessen studiere ich das Gesicht meines Blickpartners. Wenn ich nur nicht so eine Mimik-Legasthenikerin wäre, könnte ich vielleicht entschlüsseln, was hinter jedem Lächeln, Lippenlecken, Kopf-Schief-Legen und Augen-Zusammenkneifen steckt. So aber bin ich meiner Fantasie, meinen eignen Projektionen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Auch nach „Anpfiff“ tuschelt und kichert das Paar neben mir munter weiter. Das ist nicht fair. Wir dürfen uns doch nicht unterhalten. Ich will „Psst“ sagen. Soll ich „Psst“ sagen? Wie gebe ich einem einem einzigen „Psst“ genug Lässigkeit mit, sodass es nicht oberlehrerhaft wirkt, aber dennoch genug Autorität, um die Tuscheltäubchen tatsächlich zum Verstummen zu bringen? Ich traue mich. Kurz nach meinem „Psst“ geht die Unterhaltung wieder los. Ich fühle mich, als ob ich versagt hätte. Immerhin grinst mein Blickpartner – ich glaube, er fand die Aktion stark. Was ein wenig tröstlich ist, denn aus irgendeinem Grund weckt er in mir das Bedürfnis, ihm zu gefallen. Als Mensch. Als Persönlichkeit.

Entgegen der Ankündigung gibt es zum Glück keine Weinkrämpfe. Dafür jede Menge Gelächter, vor allem bei meinem zweiten Blickpartner. Ja, ich habe tatsächlich die erste Viertelstunde ohne Weinkrämpfe oder Ohnmachtsanfälle hinter mich gebracht und werde nun mit einem schelmischen braunen Augenpaar belohnt. Der Inhaber dieses Augenpaars warnt mich gleich vor, dass er vermutlich viel lachen und Blödsinn machen muss. Wegen der Nervosität. Solange er nicht auf die Idee kommt, sich während der Viertelstunde zu unterhalten, ist mir das recht.

Seine lockere Ausstrahlung animiert mich dazu, mich lässiger hinzusetzen. Großer Fehler. Unter mir knackt der Stuhl verdächtig. Sogleich bereue ich jeden Döner, jeden Burger und jeden Eisbecher, den ich jemals konsumiert habe. Was, wenn der Stuhl unter mir zusammenbricht? Eine Bekannte hat sich neulich auf ähnliche Weise das Steißbein angebrochen. Nur konnten ihren Sturz nicht so viele hochkonzentrierte Augenpaare verfolgen.

Mit intaktem Steißbein und, dank der Pantomime-Einlagen meines Blickpartners, etwas entspannter geht es weiter mit einem älteren Herren, dessen durchringender Blick mich fasziniert – und wohl nervöser macht, als ich es mir eingestehe. Denn hinterher fragt er mich mit einer fast väterlichen Besorgnis, ob ich mich denn wohl gefühlt hätte in dieser Viertelstunde. Offenbar hat meine Körperhaltung äußerst angespannt gewirkt. Nichts entgeht diesem Blickpartner. Wie sich herausstellt, fotografiert er in seiner Freizeit gerne Porträts und nimmt deshalb Menschen besonders intensiv wahr.

Mein nächstes Blick-Opfer ist eine Dame. Genau wie ich hat sie sich dieses Mal bewusst für eine weibliche Blickpartnerin entschieden. Für die Frauenquote. Beim Weekly Eye Contact starren tatsächlich mehr Männer als Frauen, entgegen meiner Erwartung, dass ein solches Event für die meisten Herren der Schöpfung doch zu touchy-feely wäre – obwohl sich hier nur Blicke berühren. Bin ich sexistisch?

Ich muss den Drang unterdrücken, ab und zu vor diesem Augenpaar wild zu fuchteln oder zu schnipsen, um meine Blickpartnerin aus ihrer unnatürlich anmutenden Ruhe zu bringen. Kein Zappeln, kein Zupfen an der Kleidung, kein Bequemer-Hinsetzen. Sogar ihr Blinzeln scheint sich mit meinem sychnronisiert zu haben, denn ich erwische sie nie dabei. Vielleicht sitzt mir die Bemerkung des Vorgängers noch in den Knochen, vielleicht bin ich inzwischen warm geworden, oder vielleicht liegt es an der Statik der Fremden: In jedem Fall stelle ich an mich selbst nicht mehr den Anspruch, möglichst ruhig dazusitzen. Denn die Statuen-Impression meiner Blickpartnerin kann ich ohnehin nicht überbieten. Überwältigt von ihrer Ruhe, studiere ich umso intensiver jede kleinste Asymmetrie in ihrem Gesicht. Sie meditiert regelmäßig, wie sich beim Gespräch hinterher herausstellt. Die erste Nicht-Überraschung an diesem Sommerabend.

Mein nächster und letzter Blickpartner macht nicht zum ersten Mal beim Weekly Eye Contact mit, sondern zum zehnten. Dies würde auch die routinierte Ausstrahlung erklären. Auf meine Frage hin, was ihn daran reizt, regelmäßig insgesamt zwei Stunden seiner Zeit dem Starren zu widmen, kommt eine Antwort, die noch ehrlicher und intimer ist als die bisherigen Blickduelle:
„Weil ich Angst davor habe, Menschen in die Augen zu schauen.“