Montag, 4. November 2013

Der Mimimist: ein Gesamtkunstwerk

Mit Verbreitung der Social Media, die jedem Wehwehchen eine mächtige Stimme verleihen, hat sich eine revolutionäre neue Kunstform herauskristallisiert: der Mimimismus.
Vertreter dieser Strömung zeichnen sich - wie alle wahren Künstler - durch eine besondere Sicht auf das Weltgeschehen aus. Zielsicher rückt ihr leidgetrübter Blick die wahren Katastrophen der Welt in den Fokus: Regenwetter, abgebrochene Fingernägel, ausbleibende Likes bei Facebook.
Um den Mitmenschen die Augen für das Leiden zu öffnen, produziert der Mimimist im Sekundentakt bedeutungsschwangere Gefühlsupdates. Damit die ignorante Gemeinde ja nicht übersieht, wie verkannt, einsam und verloren der Mimist im Moment ist. Und in zwei Stunden sein wird. Und übermorgen auch.

Die Welt ist schlecht, vergänglich und trist - diese Philosophie kennen wir doch irgendwoher. Und zwar von ungewaschenen Perückenträgern, die ihrem Weltschmerz in prunkvollen Orgien (Partymotto: "Memento mori") davontanzten, im Jahre des Herrn Sechzehnhundert-ich-sterbe-gleich.
Aber im Unterschied zu ihren barocken Urahnen sagen die Mimimisten nicht "Die böse Welt geht morgen unter, also haue ich heute auf den Putz, und wenn sie morgen nicht untergeht, dann feiern wir da weiter" ... nein, das wäre ja Mainstream und eine Verleugnung ihrer tiefen Gemütsregungen.
Nein, der Mimimist überdauert die grauen Stunden vor der Apokalypse in seinem voll vernetzten dunklen Kämmerlein und harrt, leise schluchzend, der Dinge, die da kommen. Was bleibt ihm auch anderes übrig, wenn die herzlosen Menschen um ihn herum weder Zeit noch Gehör für ihn finden und nicht bereit sind, ihr schnödes Tun ruhen zu lassen, um dem Leidenden zur Hilfe zu eilen. 

Und wenn sich doch einer der Herzlosen dazu herablässt, dem Mimisten mit einer helfenden Hand oder einem Rat (die Palette reicht von "Geh doch mal raus" bis "Hör auf zu heulen, das will keiner hören"!) beizustehen, wendet sich dieser mit einem gequälten Lächeln ab. Dieses manifestiert sich in seiner bevorzugten elektronischen Ausdrucksform in bitteren Kommentaren wie "Ihr versteht nicht, was ich durchmache, ihr könnt ja gut reden, aber wenn ihr an meiner Stelle wärt, würdet ihr euch genauso fühlen! Ihr redet nur, aber helfen tut mir keiner!"
Der Mimimist legt nämlich eine Kritikresistenz an der Tag, von der seine verkannten Vorgänger nur träumen können. Jeder Versuch von Banausen, seine düsteren Gedanken als Gejammer abzutun, jegliche Blasphemie in Form eines nüchternen Lösungsvorschlags wird gekonnt als Vorlage für weitere Kunstwerke des Leidens verwendet. Im Fundus des Mimimisten findet sich vielfältiges Handwerkszeug, den Kritikern zu trotzen: Ignorieren, Ausweichen, nebulöse Vorwürfe oder betretenes Schweigen, wenn er verbittert einsieht, dass er die Massen nicht zum Mitgefühl bekehren kann.

Liebe Nicht-Mimimisten, lasst euch sagen: Ihr versteht gar nichts! Die Ausführungen des Mimimisten sind kein Gejammer, sondern eine Kunstform. Er will keine Ratschläge hören, sondern ... was eigentlich? Ein weiterer charakteristischer Zug dieser Zunft ist nämlich, dass man ihren Vertretern es nicht recht machen kann. Da telefoniert man stundenlang oder eilt durch die Nacht, dem Mimimisten in seinem Leid beizustehen, weil man seinem schluchzenden Lockruf folgte ... und stellt am nächsten Morgen beim Durchschauen der Facebook-Updates fest, dass man doch nur als Muse gedient hat für weitere Ergüsse darüber, wie sehr der Mimimist von allen in Stich gelassen und verachtet wird.

Ich bin dafür, ein Museum des Mimimismus zu erbauen. Und so fest, wie die Künstler überzeugt sind, dass sich keiner dafür interessieren wird - es wird aus allen Nähten platzen.

3 Kommentare:

Für Autogrammwünsche, Morddrohungen und die obligatorischen empörten Aufschreie.